Seit dem Barock ist das Motiv der Falte nicht mehr aus der Kunst wegzudenken. So nimmt sie auch im Werk des französischen Künstlers Sébastien de Ganay (*1962, Boulogne-Billancourt, FR) einen hohen Stellenwert ein. De Ganay greift Faltungen jedoch nicht nur als Sujet auf, sondern siedelt diese Arbeiten bewusst zwischen künstlerischen Genres an und schafft somit Kunstwerke, die sich einer eindeutigen Kategorisierung in Bild, Relief, Objekt oder Möbelstück entziehen und die Grenzen zwischen den Gattungen verwischen. Als innovativer Vertreter der experimentellen Malerei und Skulptur kombiniert de Ganay dabei abstrakte, figurative und funktionale Elemente – häufig in satten Farben - um die Sinneswahrnehmungen zu aktivieren und konformistische Verhaltensweisen in Frage zu stellen.
In diesem Viewing Room werden vier verschiedene Werkgruppen anhand fünf ausgewählter Arbeiten vorgestellt, in denen sich der Künstler – seit den 1990er Jahren bis heute – intensiv mit dem Thema der Faltung befasst: von den frühen Folded Linen und Folded Plastics über die Cartons hin zur aktuellen Werkserie der Folded Flats.
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Folded Linen
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Sébastien de Ganay
Untitled, 1992 Linen, folding and collage
70 x 70 x 7 cm
27 1/2 x 27 1/2 x 2 3/4 inches -
In der frühen Arbeit Untitled (1992), aus der Serie der Folded Linen, lässt Sébastien de Ganay die klassische Malerei hinter sich und setzt erstmals durch Faltungen des Leinwandstoffs den Bildträger in den Fokus. Das Material der Leinwand wird durch die Falten zur reliefartigen Oberfläche, die durch ein Spiel von Licht und Schatten an Volumen gewinnt und so die Grenze zwischen Bild und Objekt auflöst. Mit seinem Interesse, die Zweidimensionalität der Malerei zu überwinden, reiht sich de Ganay in eine Tradition experimenteller Kunstschaffender ein. In diesem Sinne sind beispielsweise die in den 1960er Jahren entstandenen Achromes des italienischen Arte-Povera Künstlers Piero Manzoni weisend für de Ganays Auseinandersetzung mit gefaltetem Leinenstoff. In den Wandarbeiten beider Künstler steht die Materialität im Zentrum und der Duktus des Malers verschwindet. An dessen Stelle tritt eine Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit des Materials an sich und der Struktur seiner Oberfläche, an der eine Handschrift des Künstlers nicht mehr lesbar ist. Das Kunstwerk erfährt eine Anonymisierung, die sich vom Bild hin zum Objekt verlagert. Dieser Umgang mit der Leinwand ist Ausgangspunkt für eine tiefgehende Auseinandersetzung de Ganays mit Faltungen, welche sich über die folgenden Jahrzehnte bis heute weiterzieht. So schafft de Ganay mit Untitled (1992) ein Malerei-Objekt, das die Grundlage zukünftiger Werkserien bildet, die den Raum zwischen Bild und Skulptur öffnen und über Gattungsgrenzen hinaustreten.
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„Ich fühle mich eigentlich weder als Maler noch als Bildhauer […] Ich sehe mich mehr als Experimentator, der herauszufinden versucht, was es heißt und einmal hieß, Bilder oder Skulpturen zu machen.“
– Sébastien de Ganay
Photo: Simon Veres
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Folded Plastic
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Sébastien de Ganay
Untitled, 1994 Oil on plastic film on canvas
55 x 50 x 5 cm
21 5/8 x 19 3/4 x 2 inches -
In Untitled (1994), aus der Serie Folded Plastics, greift Sébastien de Ganay wieder auf die Ölfarbe zurück, setzt diese jedoch nicht als Mittel zur Visualisierung von Bildinhalten ein, sondern nutzt sie großzügig als Material. Der Künstler füllt die Farbe in den Leerraum zwischen Leinwand und einer darüber gespannten und gefalteten Plastikfolie. So entsteht eine reliefartige Struktur der aufgetragenen Farbschichten, die den Pinselstrich außer Kraft setzt und die Plastizität betont. Das Bild löst sich von der Wand ab, tastet sich vor und entwickelt sich zu einem Farbobjekt, das in den Raum vordringt. Gleichsam wirkt das Material durch die Plastikfaltungen hermetisch eingeschlossen und die augenscheinliche Haptik der Farbe durch die glatte Oberfläche versiegelt. De Ganay beschreibt den Arbeitsprozess als abstrakten Zyklus, bei dem sich die noch flüssige, reine Farbe in das gefaltete Plastik presst und das Malerische dadurch unerreichbar wird. Er vereint so spielerisch unter der Verwendung eines alltäglichen Materials Malerei und Objekt, Struktur und Glattheit.
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"The process of de Ganay's Painting is the process of thought itself; it is a process which turns not away from painting […], but towards it. And rather than seeing painting as closure, he presents his work to us as a space of multiple openings, layers, shadows and reflections. Painting is, as much as an object or a process, a state of flux."
– Adrian Searle, Kunstkritiker für the Guardian, London (1994)
Photo: Studio de Ganay
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Cartons
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Sébastien de Ganay
Carton Chair Flat 1, 2012 Aluminum, welded and powder coated
125 x 120 x 7 cm
49 1/4 x 47 1/4 x 2 3/4 inches -
Sébastien de Ganay begreift das Material und die Erscheinungsformen von Kartons als ein Experimentierfeld mit großem Transformationspotenzial, das er seit 2002 erforscht. Ausgehend von einem alltäglichen Papierkarton schafft de Ganay einen umfangreichen Korpus an Arbeiten, die das vielseitige Potenzial an Faltungen erkunden. Von der Fläche ausgehend lässt der Karton sich in die dritte Dimension und von der Unbestimmtheit ins Angewandte transformieren. In Anlehnung an Readymades und die Arte Povera geht de Ganay von einem einfachen Gebrauchsmaterial aus und verbindet dieses mit einer in der Tradition der Minimal Art stehenden Auseinandersetzung mit der Oberfläche. Der schnelllebige Karton wird in hochwertiges Aluminium mit granulierter Lackierung übersetzt, so dass ein mimetischer Effekt entsteht, der die Funktion des Kartons impliziert und gleichzeitig aufhebt.
Der Titel Carton Chair Flat (2012) verweist auf die potenzielle Nutzbarkeit der Arbeit. Durch alternative Arten der Faltung ließe sich aus dem hier flachen Karton eine Sitzgelegenheit schaffen, die jedoch durch die Unbeweglichkeit des Materials nur als Idee angedeutet wird. Mit der Werkserie der Cartons betritt de Ganay das Feld des angewandten Objekts und bricht die Grenzen zwischen Kunst und Design auf, indem er gefaltete Aluminium-Kartons entwickelt auf denen Betrachter in manchen Fällen auch sitzend interagieren können. Aus den Kartonskulpturen entwickelte Möbel wurden 2013 im Centre Pompidou in Paris und bei den St. Moritz Art Masters ausgestellt.
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Folded Flats
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In Kontinuität zu Sébastien de Ganays Erforschung von Faltungen seit den frühen 1990er Jahren und inspiriert von alltäglichen Post-its, die der Künstler für Notizen und Skizzen nutzt, entsteht seit 2015 die Werkserie Folded Flats, die in einer Vielfalt von Formen und Formaten die Faltungsmöglichkeiten des Quadrats untersucht. In serieller Arbeitsweise produziert de Ganay minimalistische abstrakte Wandskulpturen aus Aluminium. Mit spielender Leichtigkeit schafft der Künstler anhand von Faltungen räumliche Körper mit spontanen Geometrien, die sowohl Vorder- und Rückseite preisgeben. Die Folded Flats lassen sich zwischen zweiter und dritter Dimension, zwischen Oberfläche und Raum einordnen. Bewegt sich de Ganay bei den Cartons mit der Ausgangsform des Kartons zwischen Kunst und Design, so zielt er mit den Folded Flats auf den Grenzbereich zwischen Gattungen innerhalb der Kunst: „Wenn ich ein Folded Flat an die Wand hänge, dann ist es sowohl ein Bild als auch ein Objekt und auf jeden Fall ein Flachrelief, also beinahe eine Skulptur.“
Die Arbeit XL Folded Flat Yellow 01 (2018) hängt wie ein überdimensioniertes Post-it als abstrakte, monochrome Fläche an der Wand. Die Faltung wirkt dabei wie eine spontane Geste, die in Verbindung mit der Schnelllebigkeit des Notizzettels steht. Anders als bei den Arbeiten Folded Linen setzt der Künstler bei XL Folded Flat Yellow 01 gezielt Farbe für die Wirkung der Oberfläche ein: „Wenn ich heute, bei den Folded Flats Farbe einsetze, stellt sich sofort die Assoziation mit Malerei ein, […] was sehr wichtig für mich ist. Das ist also ein Arbeitsfeld, das ich schon lange erforsche.“ Der Umgang mit Farbe ist in de Ganays Werk zwar stets immanent, erfährt jedoch in Verbindung mit den Faltungen, einen prozesshaften Wandel. Zunächst steht anfangs der 1990er Jahre der Verzicht der Farbe zugunsten der Faltung des Materials der Folded Linen, woraufhin die Farbe bei den Folded Plastics als Material und als Werkzeug der Täuschung dient. Bei den Cartons wird Farbe anfänglich für die Verstärkung des mimetischen Effekts verwendet und in der Werkgruppe Folded Flats schafft de Ganay durch Farbe eine kühle, die Form betonende, Ästhetik.
Foto: Günter König
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Sébastien de Ganay
XL Folded Flat Yellow 01, 2018 Aluminum welded, granulated matte varnish
200 x 200 x 8 cm
78 3/4 x 78 3/4 x 3 1/8 inches -
„Jedes Werk, das der Künstler entwirft, zeugt von seiner Auseinandersetzung mit Zeit, Material und Materie, mit Abstraktion und Alltag, mit den Grenzen zwischen Kunst und Leben; oder auch mit deren Aufhebung, die bei den BetrachterInnen und Betrachtern zwangsläufg zu Verwirrung führt.“
– Andreas Hofer, curator of the Kunsthalle Krems, Austria (2017)
Photo: Simon Veres
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Sébastien de Ganay
White Folded Flat 04, 2019 Aluminum, folded and granulated matte varnish
28 x 80 x 7 cm
11 1/8 x 31 1/2 x 2 3/4 inches -
Das Werk White Folded Flat 4 (2019) in monochromem Weiß wirkt wie ein unscheinbarer Zettel, der mehrfach und in unangestrengter Weise zu einer geometrischen Form gefaltet wurde. Dahinter steht jedoch ein genaues Ausbalancieren von Flächen unter Einbeziehung von Licht und Schatten. Nicht das schnelllebige Papier wird gefaltet, sondern hochwertige einzelne Aluminiumplatten werden aneinandergefügt und homogen mit Lack besprüht. In White Folded Flat 4 hebt der Künstler durch den Verzicht einer bestimmenden Farbe besonders den Aspekt des Bildes als materielles Objekt hervor. Die Arbeit bewegt sich zwischen Bild und Skulptur, die Oberfläche wird durch die Faltung zugleich zu einem visuellen als auch haptischen Raum. Die endgültige Form stößt beim Betrachter eine Reflexion über den Faltungsprozess an, der de Ganays intensive Beschäftigung mit Variationsmöglichkeiten in der Serie Folded Flats nachempfindbar macht. Die geometrischen Formen erinnern dabei an die reduzierte Formensprache der Minimal Art. De Ganay erweitert jedoch deren Verständnis von Form und Material („What you see is what you see“ – Frank Stella), da sich die Folded Flats nicht auf den ersten Blick offenbaren, sondern den Betrachter zur mentalen Beteiligung auffordern, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.
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Sébastien de Ganay
biography
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Sébastien de Ganay (*1962, Boulogne-Billancourt, FR) studierte an der Columbia University in New York Politikwissenschaft und Film und ist Mitbegründer des Kunstbuchverlags onestar press. Neben zahlreichen Ausstellungsbeteiligungen unter anderem im Centre Pompidou Paris und dem Landesmuseum Niederösterreich in St. Pölten, zeigte 2014 das Institut Français in Wien eine umfangreiche Einzelausstellung des Künstlers. 2017 realisierte de Ganay für die Kunsthalle Krems eine vielbeachtete Gesamtinstallation in einer ehemaligen Dominikanerkirche, die von einem Übersichtskatalog zu seinem Werk begleitet wurde.
→ weitere Informationen zum Künstler
Photo: Simon Veres
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Sébastien de Ganay in der Kunsthalle Krems (2017)
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St. Moritz Art Masters (2013)
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verfügbare Werke
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